Haus Nr. 8

wenn ich ein vöglein wär …, 2019

Umfunktionierter US-amerikanischer Briefkasten: Metall, Lack, Text, 2 Holzstiele
50 x 30 x 18 cm

„Jährlich sind weltweit etwa 50 Milliarden Zugvögel unterwegs, davon ca. fünf Milliarden zwischen Europa und Afrika. Nicht nur Störche und Kraniche, auch die meisten unserer Singvögel legen unter lebensbedrohlichen Gefahren und enormen Strapazen riesige Distanzen zurück, teilweise im Schlaf und reagieren damit auf das jahreszeitlich extrem wechselnde Nahrungsangebot in den verschiedenen Brutgebieten, mittlerweile jedoch auch auf ökologische Veränderungen. Sie lassen sich nieder, wo es die besten Lebensbedingungen für sie und ihren Nachwuchs gibt. Immer mehr Zugvögel bleiben aufgrund der Klimaerwärmung länger oder ganz in Europa.

In einer Ausstellung mit frühen Fotografien des deutschen Filmregisseurs Wim Wenders sah ich ein Bild, das er 1977 in Montana aufgenommen hatte: „Mailboxes“. Eine weite Ebene in den Great Plains, im Vordergrund eine lose Gruppierung typischer U.S.-amerikanischer Briefkästen auf halb verwitterten Holzpfählen, aber keine Häuser, zu denen sie gehörten. Die Great Plains sind ein grenzübergreifendes Landschaftsgebiet, das von den kanadischen Prärieprovinzen bis über die mexikanische Grenze reicht. Das Thema Migration drängte sich mir assoziativ auf und die verlassenen Mailboxen in der menschenleeren Ebene brachten mich auf die Idee, genau so einen Briefkasten zum Vogelhaus umzufunktionieren.

Das Leben als Vogel, insbesondere die Fortbewegung durch das Fliegen, gehört zu den ältesten Träumen der Menschheit. Der fliegende Vogel symbolisiert die Überwindung von Grenzen wie kein anderes Bild. Das Motiv der Sehnsucht, Lieblingsemotion der Romantik, führte mich zu dem alten Volkslied aus „Des Knaben Wunderhorn“ (Text: Johann Gottfried Herder), dessen Beginn ich als Ausgangspunkt für meinen Text benutzt habe und der sich auf die Sehnsucht nach örtlicher Nähe zu einem geliebten Menschen bezieht. Obgleich auch diese ein großes und leidvolles Thema in der Migration darstellt, ist sie für Viele von Grundlegenderem überschattet: Fast 70 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Sie legen unter lebensbedrohlichen Gefahren und enormen Strapazen riesige Distanzen zurück, teilweise im Schlaf, und reagieren damit auf Krieg, Zerstörung, Vertreibung, Verfolgung und Hunger. Sie würden sich gerne niederlassen, wo es die besten Lebensbedingungen für sie und ihren Nachwuchs gibt, doch unmenschliche Migrationsgesetze und mangelnde Solidarität hindern sie daran.“ (RC)

Ruth Cerha

*1963 in Wien, lebt in Wien, freie Schriftstellerin und Musikerin. Nach einer klassischen musikalischen Ausbildung studierte Cerha Psychologie, arbeitete als Musikerin und Komponistin mit verschiedenen Bands, fürs Theater und in interdisziplinären Kunstprojekten. Seit 2005 schreibt sie Prosa und veröffentlichte einen Erzählband und vier Romane, zuletzt Traumrakete (FVA 2018). Sie unterrichtet Klavier, Stimme sowie Creative Writing.

www.ruthcerha.com